Eine Ölbohrinsel vor der Küste Marokkos. Als Wenzel, genannt Waclaw, von der Schicht in seine Kabine kommt, ist Mátyás nicht da. Waclaw geht in die Messe, einen Happen essen, vielleicht ist er ja dort. Fehlanzeige. Mátyás ist verschwunden. Unauffindbar. Auf einer Bohrinsel kann das nur eines heißen. Halbherzig lässt der Schichtleiter nach ihm suchen, doch weder die Bohrinsel noch die See ringsum geben etwas preis. Damit beginnt Anja Kampmanns Roman „Wie hoch die Wasser steigen“ (Hanser).
Den Boden unter den Füßen verloren
Mátyás Verschwinden zieht Waclaw den Boden unter den Füßen weg. Mit Mátyás verbindet ihn mehr als die gemeinsame Kabine. Sie sind Freunde, stehen sich sehr nahe, so nahe, dass Mátyás manchmal zu Waclaw ins Bett steigt, bevor er zur Schicht muss.
Waclaw wird beurlaubt und mit einem Helikopter an Land gebracht. Er zieht sich in das Zimmer zurück, dass Mátyás und er in Tanger gemietet haben. Doch dort kann er nicht bleiben. Alles erinnert ihn an seinen Freund. Er bricht schließlich auf nach Ungarn, dorthin, wo Mátyás herkommt, um dessen Familie seine Sachen zu bringen.
Damit beginnt eine Reise, die Waclaw geografisch und innerlich zu wichtigen Stationen seiner Biografie führt. Zu Alois, dem väterlichen Freund aus der Kindheit in Bottrop, der in Norditalien Tauben züchtet. Mit einer von Alois Tauben auf die Halde Haniel in Bottrop, in deren Schatten das Zuhause seiner Kindheit lag. Und dann nach Polen, zu Milena, seiner Lebensgefährtin, die ihn nicht mehr in ihr Leben gelassen hat. „Ich im Dorf und du in der ganzen Welt, das geht nicht.“ – „Komm nicht mehr.“
Anja Kampmann konfrontiert ihre Leser/innen in ihrem ganz und gar faszinierenden Debüt-Roman mit einem Menschen, dem der Boden unter den Füßen weggebrochen ist. Zwölf Jahre hat Waclaw mit harter Arbeit gutes Geld verdient, ist immer der Arbeit hinterhergezogen und hat in den Pausen zwischen den 3-Wochen-Einsätzen auf den Bohrinseln nichts anbrennen lassen. Mit dem Verschwinden seines Freundes ist er mit einem Mal auf sich zurückgeworfen, allein. Und stellt fest, dass sein Wurzeln abgestorben sind. Wohin gehört er? Wohin soll er gehen? Was hält ihn im Leben? Zuerst ein zerknitterter Zettel mit der Adresse von Alois, irgendwo in Italien. Und die Hoffnung, Milena wiederzusehen, mit der er vor vielen Jahren aus dem Ruhrgebiet in die Zukunft aufgebrochen war,
„mit dieser unbestimmten Erwartung, als wäre der Ruhrpott nur eine Tür, die man aufstoße musste, damit dahinter das eigentliche Leben begann, etwas anderes als das Rot-Weiß der Messdiener und die goldenen Kelche voller kaltem Wein“. (292)
In kurzen Rückblenden erzählt Kampmann, dass diese Erwartung trog. Dass das Geld bald nicht mehr reichte und Waclaw in der Arbeit auf der Bohrinsel eine Möglichkeit sah, gutes Geld zu verdienen. Was er nicht sah: dass Milena und ihn diese Arbeit auseinandertrieb, weil ihre Welten nicht mehr zusammenpassten.
Was Anja Kampmann dagegen sah – und wunderbar parallel schaltet – ist die Verwandtschaft von Maloche auf der Zeche und auf der Bohrinsel. Beides sind aussterbende Industrien, der Bergbau in Deutschland steht vor dem Aus und mit ihm die Kumpel-Kultur der Bergleute – und das Ruhrgebiet (und, nicht zu vergessen, der Bergbau an der Saar und im Raum Aachen). Auf Waclaw wirkt das Ruhrgebiet
„wie der Draht einer Glühbirne, der plötzlich gerissen war“ (280).
Etwas zeitversetzt dazu wird auch die Ölförderung immer schwieriger, müssen ergiebige Felder wie Brent in der Nordsee aufgegeben werden, weil nur noch Sand und Wasser gefördert werden, wie Waclaw an einer Stelle feststellt.
Obwohl er also aus der Enge der Bergarbeitersiedlung im Schatten der Halde Haniel ausgebrochen ist, tritt er doch in die Fußstapfen seines Vaters, nur in einem anderen Umfeld und mit einem anderen Brennstoff. Statt Staublunge hat er Rücken.
Anja Kampmann zeigt aber auch den Unterschied zwischen den Bergleuten und den Ölleuten. Obwohl beide einen gefährlichen Knochenjob machen, erscheint der Zusammenhalt der Bergleute wärmer, stabiler. Was daran liegt, dass die Bergleute über Generationen auf der gleichen Zeche oder wenigstens in der Nähe blieben, mit Familie und Nachbarschaft als Rückgrat. Das fehlt den Ölleuten. Sie wandern von Bohrinsel zu Bohrinsel, eine enge, stabile Gemeinschaft kann durch den Wechsel von Arbeits- und Freizeitblöcken nicht entstehen, Familie und Nachbarschaft sind weit weg.
Sehnsucht nach Heimat
Dass das, was Waclaw als Enge empfunden hatte, Heimat und Sicherheit bot, sieht er erst, als er in Bottrop von der Halde auf die Siedlung schaut:
„Waclaw konnte in der Ferne die beleuchteten Fenster sehen, die niedrigen, engen Zimmer. Was es bedeutet hatte, jeden Tag in dieselbe Küche zu kommen, auf der Tannenholzbank zu sitzen im Warmen, die Brechbohnen aus dem Garten, das Husten seines Vaters, abends um halb zehn das regelmäßige Geräusch der Gardinenstange. Dort, an dem engen Tisch hinter dem Schrank, saß noch immer der Junge, der am Tag bis an die Ränder der Siedlung gelaufen war, und schwieg zu seinen Rechenaufgaben.“ (297)
Die Heimkehr – die keine ist, weil es niemanden mehr gibt, der ihn erwartet – weckt in Waclaw die Sehnsucht nach Zugehörigkeit, für die Kampmann auch wieder eine wundervolle Beschreibung liefert:
„Dort draußen war das alles nicht mehr: die Enge und der Dreck, der in diese Jahre gehörte, der etwas bedeutet hatte. Eine Ecke, an der man einander erwartete, oder ein Fenster, zu dem man hinaufgeblickt hatte, nur um zu sehen, ob Licht brannte. Ob jemand da war. Niemand sang beim Aufhängen der Wäsche, niemand reichte ein Glas Schnaps über den Zaun, Williams Birne, für die Frauen, heimlich.“ (312)
Waclaw ist ein Malocher, ein Arbeiter, ein Ruhrgebietsmensch wie er im Buche steht. Polnische Wurzeln, der Vater Hauer auf Prosper, Kindheit in der Zechensiedlung. Anja Kampann zeichnet diese Seite Waclaws mit großer Aufmerksamkeit und dem Blick für Details.
Ist schon der Ölbohrarbeiter als literarische Figur etwas Besonderes, so ist es erst recht die Sprache. Kampmann findet phantastische Bilder (wie das vom gerissenen Glühfaden) für Waclaws Gefühle und Eindrücke, für seine Suche nach Halt und Sinn. Hier macht sich bemerkbar, dass sie aus der Lyrik kommt und zuerst einen Gedichtband veröffentlicht hat. In die Erzählung von Waclaws Reise blendet sie immer wieder Erinnerungen ein, an die Zeit mit Mátyás, an die mit Milena und an die Kindheit in Bottrop. Es ist ein mosaikhaftes Erzählen, das erst ganz allmählich zu einem Bild führt, das doch unvollständig bleibt – wie Erinnerungen eben sind.
Resonanzraum für die Frage nach Gott
Für religiös musikalische Menschen hat der Roman einen doppelten Boden, einen Resonanzraum für die Frage nach Gott und nach dem Sinn des Lebens. Waclaw, der offensichtlich katholisch geprägt ist, bekommt von dieser Adresse allerdings keine Antwort – und erwartet sie von dort auch eher nicht mehr. Diese Abwesenheit Gottes gestaltet Kampmann mit eindringlichen Bildern.
Da gibt es z.B. eine Szene in Budapest, Waclaw ist auf dem Weg zu Mátyás Schwester und lässt sich einen Anzug maßschneidern (den er auf seinem ganzen weiteren Weg anbehält). Weil er nicht weiß, wohin, bleibt er beim Schneider sitzen, beobachtet ihn und hängt seinen Gedanken nach:
„Längst wusste er nicht mehr, was die einzelnen Teile bedeuteten. Und während er dem Schneider zusah, wie er die Wattierung, das Rosshaarplack, die Taschen und all die Nähte zusammenfügte, die Pikierstiche und Schichten von rechts auf links in ihren eigentliche Zustand brachte, in dem all dies verborgen im Innern der Jacke bleiben würde, fragte er sich, ob der Moment kommen werde, in dem jemand die Zeit, die einer gelebt hatte, herumdrehen würde, sodass all die einzelnen Geschichten schließlich ein Ganzes ergaben. Ob Milena ein Teil davon wäre, und Mátyás. Und ob nicht auch jemand, der fehlte, noch immer dazugehörte, wie eine Wattierung, die dort ihren Platz behalten würde.“ (72)
Bei dieser Frage muss ich an das „Jüngste Gericht“ denken, ein völlig deplatzierter Begriff eigentlich, denn wir stehen am Ende nicht unter Anklage, es geht vielmehr um genau die Lebensrückschau, die Waclaw nicht gelingen will.
Noch viel eindringlicher finde ich diese Gottes-Leerstelle im Kapitel „Halde“. Um Alois‘ Taube fliegen zu lassen, wählt Waclaw die Halde Haniel, eine der höchsten Halden des Ruhrgebiets.
Auf dem Weg dorthin, vor Alois‘ Haus, fällt ihm auf, dass der Himmel leer ist. Es gibt keine Tauben mehr, keine Taubenzüchter wie Alois. Mir scheint die Taube aber nicht nur unverzichtbarer Bestandteil einer Beschreibung des untergegangenen Ruhrgebiets zu sein, sondern auch Sinnbild für den Glauben bzw. dessen Abwesenheit. Der Himmel ist leer, da oben ist nichts mehr. Der Heilige Geist, der als Taube dargestellt wird, droht auszusterben.
Ist das zu weit hergeholt? Immerhin steigt Waclaw mit einer Taube auf einen Berg, Sinnbild für die Begegnung mit Gott (Mose, Jesus bei der Verklärung). Auch auf diesem Berg ist übrigens nichts, stellt Waclaw fest, bis auf ein leeres Amphitheater und Pfähle, die irgendwer in den Boden gerammt hat (Es handelt sich um das Kunstwerk “Totems” von Agustín Ibarrola). Wer googelt, stellt allerdings fest, dass dort noch etwas ist: ein Kreuzweg, zu dem auch das Holzkreuz aus Spurlatten gehört, von dem im Roman die Rede ist. Das ist doch geradezu eine Einladung, sich Gedanken über Gott und die Welt zu machen!
Ein weiterer Hinweis auf diesen Resonanzraum findet sich in Waclaws Erinnerung an seinen Aufbruch mit Milena. Warum bringt Kampmann darin Messdiener, Brot und „kalten Wein“ unter?
Sie sind Wegweiser zum ewigen Leben, ein Versprechen, das hohl geworden ist, das im Verdacht steht, nicht mehr zu sein als eine Droge, weshalb Waclaw es in seiner Erinnerung mit Tristesse verbindet und als Gegenbild zum „eigentlichen Leben“ verwendet.
Dieses Versprechen wird für Waclaw auch dadurch nicht mehr wahrhaftiger, nahrhafter, dass sich die Hoffnung auf das „eigentliche Leben“ nicht erfüllt hat. Der Himmel bleibt leer, die Frage nach Gott, nach dem Sinn des Lebens bleibt unbeantwortet.
Anja Kampmann: Wie hoch die Wasser steigen. Hanser 2018